Motto:
"Jeder von uns hat über 200 Vorfahren, die im Jahre 1700 lebten - jeder von ihnen hat den heute lebenden Nachfahren wesentlich weniger als ein Chromosom übermittelt." Edward O. Wilson: Über die menschliche Natur "Von wem nur habe ich das Doppelkinn, von welchem Vielfraß, wo meine ganze Seele sich nach Askese sehnt"
Zbigniew Herbert: Pan Cogito
Die Entstehungsgeschichte dieses Textes ist trotz seines wissenschaftlichen und poetischen Mottos nicht hochtrabend, sie liegt länger zurück (ich war damals noch Student) und im Alltäglichen verborgen. Alles begann mit der Frage, die während eines gewöhnlichen Mittagessens an die Mutter gestellt wurde: Warum werden in diesem Haus - und das schon seit vielen Jahren - keine Schnittklöße gemacht? Mutter erblaßte vor Erstaunen, weil (so stellte sich heraus) dies die Lieblingsklöße ihres vor langer Zeit verstorbenen Vaters waren.
Zur Erklärung: Die Schnittklöße im Hause der Otkowiczka (meiner Großmutter) waren mit anderen nicht zu vergleichen, und zwar nicht nur deshalb, weil das Rezept mittlerweile in Vergessenheit geraten war. Zuerst wurde der Teig gemacht, den man später zu langen, recht dicken Rollen formte, die dann schräg aufgeschnitten wurden. Die Klöße waren etwas schwammig, aber weniger als die sogenannten Gummiklöße, die aus gekochten, gequetschten Kartoffeln, Kartoffelstärke und Eiern gemacht wurden; unsere Kartoffelklöße waren weicher. So schmeckten (nach diesem unvollständigen Rezept) meine schlesischen "Nicht -Proustschen Madeleines".
Das Sonderbarste war jedoch, daß im beschriebenen Fall nicht der Geschmack der "Madeleines" die Vergangenheit hervorrief, sondern die Vergangenheit verlangte, daß ich sie endlich zu essen bekam. Wäre es nur dieser eine Fall gewesen! Ein anderes Beispiel: Ich rauche Zigaretten, aber von Zeit zu Zeit zünde ich mir gern eine gute Zigarre an - erst kürzlich erfuhr ich, daß mein Großvater Stefan, Liebhaber von Schnittklößen, im Alltag billige, populäre Zigaretten (Selbstgedrehte) rauchte; zu den Feiertagen aber kaufte ihm Großmutter immer einige (oder gar eine Schachtel?) gute Zigarren. Bin ich es selbst, oder ist es jemand in mir, der nach Schnittklößen und guten Zigarren verlangt? Wer? - meine Vorfahren? Wahrheit ist, daß "ihr Blut mein Blut ist; und ihre Wünsche in mir wogen" (J. Joyce Ulysses)?
Denken wir darüber nach, so ist es verwunderlich, erstaunlich, wie wenig wir Individuen sind, sogar im sogenannten Aussehen, auf dessen Grundlage man uns erkennt. Das, was in uns nicht individuell ist, ist außerdem dauerhafter als das Individuelle. In Słowo i ciało (Wort und Leib), der roman von Teodor Parnicki, spielt Khosroes auf das Alter seiner Mutter an und verspottet den Kastraten Samasariston, der unverändert seit vielen Jahren ihre Schönheit bewundert. Es erweist sich, daß Altern kein Hindernis ist - Samasaryston bewundert und verehrt Khosroes´ Mutter weiter - jedoch "in Gestalt und Gesichtszügen von Alexandra", der Schwester von Khosroes. Auf dem Gruppenfoto von Onkel Theofils Hochzeit sieht Oma Julia (die Mutter meines Vaters) wie die "heutige" Tante Ottilie (Vaters Schwester) aus, die übrigens (wesentlich jünger, aber schon damals ähnlich) hinter Mutters Rücken steht. Die Gestalt ist nicht die unsere, obwohl es an der Gestalt stets etwas gibt, was sich nicht ändert und durch das wir Erwachsene uns auf Fotos als Kinder wiedererkennen.
Diese Reflexionen bedrücken jenen, den das Besondere, Ganzheitliche und Ausschließliche seines "Ichs" gelehrt worden ist, sie untergraben die Schulbildung. Was wird aus der Sichtweise, daß das Sein, die Existenz die meinige ist? Ich war doch überzeugt worden, daß sogar das sprachliche Subjekt, das grammatische "Ich" meinem tatsächlichen "Ich" fremd ist: Es kommt von außen, ergreift Besitz von mir und deformiert meine Individualität, veranlaßt sie zur Identifikation mit dem Unpersönlichen, Anderen. (Barthes, Lacan). Ich lerne, mit dem Gefühl der Fremdheit des eigenen "Ich" gegenüber der Welt zu leben, und jetzt entdecke ich, daß es das "Ich" gar nicht als jemand anderes oder Eigenständiges gibt. "Bin ich aber betrogen worden!"
Ich erfahre (wenn man große Dinge mit kleinen vergleichen darf) etwas Ähnliches wie Romain Rolland, der sich anschickte, die eigene Quasi-Familiengeschichte niederzuschreiben, daß auch ich "alle die Colas Breugnon erwecke, die in meiner Haut stecken"1. Im Gegensatz zu Rolland habe ich kein Problem mit einem Übermaß an Redseligkeit: Seine Vorfahren sind Schwätzer, reden viel, umgarnen ihn und ein eigenes Wort wird für ihn unmöglich, sie sprechen für ihn: "Siehst du, das Unangenehmste am Tode ist das Stillschweigen..."2 In mir schweigt jener (ist es einer oder sind es mehrere?), der nach Kartoffelklößen und guten Zigarren verlangt: Er verlangt, er wählt aus, er legt fest, aber er formuliert nicht, er sagt nicht einmal, wer er ist. Es ist schwer, ihn aus seinem Schweigen hervorzulocken. Ist er wirklich Großvater Stefan?
Er kam im Bergwerk um, vier Jahre bevor ich geboren wurde. Im Schlafzimmer an der rechten Seite des Bettes hing ein Bild von Großvater Stefan, wahrscheinlich die Vergrößerung eines Ausweisfotos: Ein offizielles, gestelltes Bild - was dem Fotografen gewöhnlich geboten wird - ist kein privater Gesichtsausdruck (S. Sontag). Das Gesicht ist ernst, streng, das Gesicht eines Toten, in der Paßfotoeinstellung der Kopfpartie ein eigenartig deformierter Hemdkragen (scheinbar das Gesicht in eine andere Richtung gedreht als der Anzug). Kein Wunder, daß das Foto Angst weckte. Es gab kein Entrinnen vor dem Bild des Großvaters durch Sich-Umdrehen, gegenüber in der Ecke hinter dem Schrank lauerte Belfegor, ein Gespenst des Louvre, aus einer Serie, die das polnische Fernsehen seinerzeit ausstrahlte. In der Mitte über dem Bett hing zwar ein "heiliges" Bild, aber es half nicht, milderte die Angst nicht: Vielleicht im Vorgefühl, daß das Kind mit der Nase im Kopfkissen einst Nietzsche lesen wird.
Großvater Stefan trat also gleich als Toter in mein Leben, obwohl das kindliche Vorstellungsvermögen seinen Tod vorerst in die Mythologie der Massenkultur einfügte (ein Kind kann die Infantilität unserer Vorstellungen über den Tod leichter annehmen und damit zurechtkommen).
Großvater Stefan erschien gleich als zweifach Verstorbener: biologisch-individuell und metaphorisch, symbolisch. Jede Fotografie enthält nach Barthes etwas Schreckliches: "die Wiederkehr des Toten"3. Sontag schreibt im Nachdenken über dieses Innehalten, Aufbewahren der Wirklichkeit im Bild ähnliches: "Fotografieren heißt die Sterblichkeit inventarisieren; Fotografien konstatieren die Unschuld, die Verletzlichkeit, die Ahnungslosigkeit von Menschen, die ihrer eigenen Vernichtung entgegengehen."4
Wenn ich heute wieder das Paßfoto meines Großvaters anschaue, bedrückt mich der Tod weniger als sein erhabenes Schweigen in der stilisierten Fotografierpose: Gerade mit diesem Schweigen muß ich irgendwie fertigwerden. So suche ich also nach Bildern, in denen es mehr Zufälliges gibt: auf denen das fotografierte Objekt mehr sagt. Das Mißliche an der Fotografie (so belehren uns die Kenner) ist ein Übermaß an Aussagekraft. Indem die Fotografie darstellt, was tatsächlich ist (was war, was geschah...), läßt sie sich nicht ideologisch ausnutzen: die Redaktion der Zeitschrift "Life" lehnte die Bilder des berühmten Fotografen Kertesz ab, weil "sie 'zuviel sprachen'"5.
Die aufgezeigte Aussagefähigkeit von Fotos ist jedoch eine Negativaussage, ein Verneinen nur, ein Sich-entziehen aus der Konzeption des Fotografen. W. Benjamin unterstrich die Unzertrennlichkeit der Beziehung zwischen Fotografie, Zeit und Ort des Geschehens, und schrieb, daß in der Fotografie etwas ist, "was man nicht zum Schweigen zwingen kann". Schwieriger ist jedoch festzustellen, was eine Fotografie außer "nein" noch sagen kann - Benjamin selbst postuliert, daß einer Fotografie eine Beschreibung beizufügen sei, die hilft, die Fotografie zu entschlüsseln. Die provokative, verführerische, faszinierende Kraft einer Aufnahme ist doch in der Formel eingeschlossen: "Hier ist die Oberfläche. Nun denk darüber nach - oder besser: erfühle, erkenne intuitiv - 'was darunter ist...'"6 Jene Herausforderung der Fotografie kommt dann voll zur Geltung, wenn sie wirklich "Kontingenz, Einzigartigkeit, Abenteuer"7 ist.
Großvater Stefan auf der Beerdigung seiner Mutter, die letzte Phase der Zeremonie, schon ist der Sarg herabgelassen, eine Frau legt Blumen aufs Grab. Der Abzug ist undeutlich: schwer auszumachen, wohin der Großvater schaut. Bestimmt aber sieht er den Fotografen nicht, posiert nicht. Er steht noch mit unbedecktem Haupt, den Zylinder in der Hand (das sieht man auf dem Bild nicht, weil seine Hände von einer Gestalt in Militäruniform verdeckt sind - mit Zylinder sieht man den Großvater im Trauerzug, irgendwie eigenartig! - mein Großvater - ein Bergmann, hatte einen Zylinder und trug ihn auch; für mich verbindet sich Zylinder nur mit Varieté - "Artisten, Artisten, Artisten vom Varieté - nehmen es mit der Liebe nicht so ernst.")
Worauf aber schaut Großvater Stefan? Auf das Grab, im Vorgefühl, im Nachdenken über den eigenen Tod? Oder ist da eher eine Parallelität zwischen dem Grab und seinem Inneren: die Abgeschlossenheit des Grabes als Figur des Inneren?
Hinter Großvater Stefans Schultern gehen die Leute schon nach Hause - über die Wiese. Damals war es der sogenannte Neue Friedhof in Mysłowice, heute sind an dieser Stelle Gräber, viele Gräber, lauter Gräber, eins neben dem andern. Wenn man es heute betrachtet, machen die vor vielen Jahren nach Hause Gehenden den Eindruck, als ob sie nach der Zeremonie in ihre eigenen Gräber zurückkehren würden (mit Sicherheit leben fast alle Teilnehmer dieser Beerdigung heute nicht mehr). Es ist dies wahrscheinlich derselbe Platz, der im letzten Jahr in die Schlagzeilen geriet, als Satanisten ihn geschändet hatten: Die geschändeten Gräber zeigte das Fernsehen, die Bilder erschienen in den Zeitungen, es wurde erbittert darüber debattiert. Heidegger hat recht, es ist schwer das 'Seyn' vom 'Seienden' zu unterscheiden, manchmal taucht sogar ein Zweifel auf, ob das Sein existiert - "der Raum hat keine Anwesenheit, sowenig wie Abwesenheit"8.
Anderes Foto: Gestelltes Gruppenfoto vor Waldhintergrund. Alle lächeln, die Mehrzahl schaut ins Objektiv. Nur der Großvater sieht nicht fotogen aus; er (ein ortsbekannter Spaßmacher) ist ernst. Der hochgewachsene Großvater Stefan hält die Arme ganz eng an den Körper gepreßt (dadurch sieht er etwas wie ein Gorilla aus) und schaut - aber auch hier wissen wir es nicht sicher - auf seine jüngste Tochter: das Kleinkind im Kinderwagen im Bildvordergrund, etwas vornüber gebeugt. Woran denkt Großvater Stefan? Schaut er auf Anusia als auf die biologische und psychische Fortsetzung des eigenen Seins? Oder fragt er sich, wie sie sein wird, wenn sie erwachsen ist? - Der Großvater fürchtete sehr, daß seine Töchter nach seiner Mutter kämen: einer guten, ehrbaren Frau, die aber in finanziellen Dingen recht leichtsinnig war. Vielleicht aber denkt der Großvater bei der über den Rand gebeugten Anusia nur: "Durch die dumme Fotografiererei fliegt das Kind noch aus dem Wagen."
Bei den gemeinsamen Bildern mit der Großmutter gibt es kein Geheimnis: ich weiß, was sich hinter der Zweidimensionalität der Fotografie verbirgt. Auf meinem Lieblingsfoto (es ist wohl das letzte) sitzen wir zueinander geneigt. Ich erinnere mich, daß wir uns damals an den Händen hielten, obwohl unsere Hände von meinem Knie verdeckt werden. Ich weiß auch, daß auf dem Foto Großmutter nur mit Mühe das Lachen zurückhalten konnte - mit der anderen Hand (das konnte der Fotograf nicht bemerken und auf dem Negativ festhalten) krabbelte ich sie auf dem Rücken. Großvater Stefan erschien in meinem Leben gleich auf der Seite von Tod und Schweigen; seine Frau, meine Großmutter Maria, war von Anfang an Leben und Reden, und das noch bevor ich selbst sprechen gelernt habe.
Alles begann mit dem Hin und Her um meinen Namen. Zuerst sollte ich Dominik heißen und als Patron den Ordensgründer haben, der zur Bekehrung der Albigenser berufen worden war (ihre Doktrin stand dem Manichäismus nahe) und danach schnell zum Arm der Inquisition wurde gegen alle anderen vom Katholizismus Abtrünnigen. Statt dieses starken Schutzheiligen wurde für mich der erste Märtyrer (in der Vulgata ist Szczepan Stephanus) ausgewählt. Ich hätte etwas dagegen haben können, wenn durch den Namen auch mein Schicksal festlegt worden wäre. Aber die Schlesier nehmen Eigennamen nicht sehr genau, manchmal gehen sie sogar recht eigenartig damit um. Meine Mutter und Großmutter waren Namensschwestern: die Großmutter wurde Marika gerufen, und Mutter (bis heute) Maynka - zur Unterscheidung wurde der zweite Name meiner Mutter genutzt (Maynka ist die schlesische Koseform von Magdalena).
Die Entscheidung über meinen Namen fällte der Vater, aber mit dem Gedanken an seine Schwiegermutter. Meine Großmutter hatte sich so sehr einen Sohn gewünscht, aber drei Töchter geboren. Die älteste von ihnen (meine Mutter) hatte zuerst auch eine Tochter (meine ältere Schwester) - erst vier Jahre später wurde meiner Großmutter der erste Enkel geboren, ich. Ich kam an ihrem Geburtstag zur Welt, ich war das schönste Geburtstagsgeschenk - so kann man meinen Vater verstehen, der es durch seine Zustimmung vervollständigen wollte, daß sein Sohn den Namen des verstorbenen Mannes der Großmutter, den von Großvater Stefan, ererbte (symbolische Fortsetzung). Meine Großmutter sagte, als sie von meiner Geburt erfuhr, daß der Himmel sich über ihr geöffnet habe, bald sollte sich aber herausstellen, daß es der gegenüberliegende Teil der Welt war, der für sie seine Tore einen Spalt breit geöffnet hatte. Nach den symbolischen Anfängen mußte man zur Historizität zurückkehren, die sich um Symbole wenig schert...
Mit der Großmutter wurde pausenlos geredet: Es wurde ohne Unterlaß gequatscht, geschwatzt und gestritten. Wenn ich heute über diese Gespräche nachdenke, gibt mir ihre Belanglosigkeit immer wieder zu denken, obwohl die angesprochenen Themen häufig absolut nicht belanglos waren: die Streiks in der Vorkriegszeit, Okkupation, Juden, Nazis, Sowjets, die Nachkriegsnot usw. Der Weg zu den wirklich wichtigen Themen - Sinn des Lebens, Liebe, Tod - war jedoch verschlossen: Er zeigte sich für einen Moment, um um so schneller zu verschwinden. Es erstaunt mich, daß es in diesen Gesprächen Raum gab für die wichtigsten Dinge der Menschheit, aber er wurde nicht mit Inhalten gefüllt? In niemandem - ich paraphrasiere einen Satz aus Ulysses - leidet der Logos so sehr wie in den Schlesiern, und dies nicht deshalb, weil er in ihrem Dialekt nicht heimisch werden konnte. Die Mehrzahl der schlesischen Erzählungen läßt sich sofort in große Dramen umschreiben.
Nehmen wir zum Beispiel die Erinnerungen meiner Großmutter an ihre Großmutter. Die kleine Marika, die jüngste unter den Geschwistern, war ihr Liebling: häufig hielt sie sich in der Nähe ihrer Großmutter auf. Sie war auch bei ihrer Großmutter, als diese eine Herzattacke erlitt. Die Großmutter von Marika streckte nach ihr die Hände aus, aber Marika lief, erschrocken vom verzerrten Gesichtsausdruck, zu den anderen. Das kleine Kind tat etwas durchaus Vernünftiges, weil es allein nicht helfen konnte. Trotzdem wird sich Marika noch an ihrem 70. Geburtstag, vorwerfen, daß sie die Großmutter verlassen, verraten hatte (ehe die anderen herbeigeilt waren, starb die Großmutter). Tod und Einsamkeit.
Großvater Stefan hatte eine Gabe zum Reden (Logos). Seine letzten Worte können mit Furcht und Zittern von Kierkegaard konkurrieren. Kurz bevor die Kohlemassen auf ihn stürzten und ihn erschlugen, fragte er die anderen Bergleute: Jungs, wovor fürchtet ihr euch? Großvater Stefan zog es jedoch vor, sich fern vom Logos, sogar fern von der Umgangssprache aufzuhalten. Er sang aus Leidenschaft, besonders nachdem er getrunken hatte. Seine Kumpel gingen aus Wodka-Bosheit mit den Fäusten aufeinander los, der Großvater trennte sie nicht - er stellte sich zu ihnen und sang. Er sang, wenn er nach Hause zurückkehrte, sang noch im Bett, sang bis er eingeschlafen war.
Aleksander Nawarecki bemerkte mit der ihm eigenen Gründlichkeit: "Ich habe in diesem Dialekt keine Mythen gehört, also Erzählungen von Heroen, zur Genüge habe ich jedoch Erzählungen in Profansprache gehört - Erzählungen, Witze, Späße" Es fällt allerdings schwer, Nawarecki zuzustimmen, daß "es den Schlesiern an gehobener Rede (Logos) fehle": Der Schlesier will sie nicht haben, er vertreibt sie (ihn). Großmutter Julia (Vaters Mutter) war eine ungeheuer interessante Gestalt, mutig, klug, unkonventionell. Meinen Vater brachte sie noch als Fräulein zur Welt und lebte mit meinem Großvater Stanisław, obwohl seine Mutter sehr dagegen war und ihre Trauung verhindern wollte (sie heirateten erst nach zwei Jahren, die Liebe der schlesischen Julia hatte gesiegt, obwohl der Großvater für seine Entscheidung mit Enterbung bestraft wurde).
Großmutter Julia war gesellschaftlich tätig (u.a. als Mutter-Polin), trat in einem Laientheater auf (spielte u.a. in Krakauer und Goralen) und war eine der jüngsten Melderinnen bei den Schlesischen Aufständen. Sie war eine geborene Dłubis, und diese stammten von einem Dubois ab, einem Franzosen am Hofe - die Erinnerung an die Herkunft blieb im Beinamen: sie wurden "Kastellanen" genannt: (Korowjew und Voland von Margarita: "Wie seltsam sind die Karten gemischt! Das Blut!")9
Wenn ich jedoch den Vater frage, ob er sich an irgendeine wichtigere Aussage von Großmutter Julia erinnern kann, durchsucht er sein Gedächtnis vergeblich: Das waren gewöhnliche, alltägliche Gespräche, erzählt er. Im Gegenteil: Gegen Lebensende von Großmutter Julia mochte sie es besonders, von ihren kleinen Abenteuern während der Aufstände zu erzählen (wie die Deutschen zum Narren gehalten wurden); wie aus Furcht, nicht in die Geschichte einzugehen, wollte sie selbst bestehen bleiben in ihrer Rede, und vielleicht auch in den heimischen Legenden.
Meine Gespräche mit Großmutter Marika waren ähnlich bedeutungslos, ausgehend von der Tatsache, daß man die Sprache nicht ernst nahm, obwohl Faselei verboten war. Schon unsere Begrüßung konnte von einem Außenstehenden als Ausdruck erbitterten Hasses gewertet werden, obwohl wir uns beide wirklich lieb hatten: "Grüß dich, alte, fette Großmutter!" - "Du, alter Teufelssohn, weshalb kommst du angekrochen" - antwortete die Großmutter und lachte mit dem ganzen Körper, so wie nur sie es konnte. Erhabene Worte (Logos) waren nicht zu erwarten. Das letzte bewußte Wort der sterbenden Großmutter war die Antwort auf meine Frage, wie sie sich fühle - "beschissen". Großmutter Marika, Mutter einer Ordensschwester und Tante eines Priesters, glaubte nicht an Metaphysik. Als ihre jüngste Tochter, die den Anblick des Leidens und der Agonie nicht mehr ertragen konnte, vorsichtig flüsterte, "Mutter, wenn der Liebe Gott Dich schon zu sich berufen soll, dann bitte ihn, daß er es auch macht", raffte sich meine Großmutter, die keine Nahrung mehr zu sich nahm und nur schwer trinken konnte, zu der schneidenden Erwiderung auf: "Ich mach mich noch nicht auf den Weg zu Ihm".
Es reicht, als Schlesier geboren zu werden, schlesische Gene zu erben und von einer Schlesierin aufgezogen zu werden (einer solchen, wie meine Großmutter) um schon in der Kindheit Pro-Postmodernist zu werden - so stark sind im Schlesiertum der Antilogozentrismus, der Widerstand gegen die besitzergreifende Macht des Diskurses und gegen die Usurpation des Verstandes, also der Antifundamentalismus schlechthin. Es reicht, das Verhalten von Großvater Stefan während des Krieges zu verfolgen, um sich davon zu überzeugen, daß kein Logos (politisch, ideologisch...) seine Taten lenkte. Erst nahm er einem bekannten Pfadfinder, der Katowice verteidigen gehen wollt, den Karabiner weg - rettete ihm das Leben und gefährdete das eigene (nachdem die Deutschen gekommen waren, versenkte er mit Onkel Antek nachts jenen Karabiner in einer der Tongruben). Er verdarb es sich sogleich mit den Okkupanten, lehnte es ab, die Reichsliste zu unterschreiben (der Großvater hieß nach der Geburtsurkunde Otkowitz) - Gemeindevorsteher Raue drohte ihm sogar mit Auschwitz, aber zum Glück für Großvater Stefan kam Raue wegen finanzieller Veruntreuung an die Ostfront.
Zusammen mit der Großmutter half er Juden und russischen Kriegsgefangenen. Aber nach dem Krieg halfen sie genauso den Volksdeutschen und deutschen Kriegsgefangenen. Meine Großeltern waren Proletarier, noch nicht von den Sozialisten verdorben, Proletarier, die Haß und Opferbereitschaft kannten: sie schöpften ihre "Energie aus dem Bild der unterjochten Vorfahren und nicht aus dem Ideal der befreiten Enkel" (Benjamin). Großvater, der ein äußerst begabter Schüler war, sollte vom Schuldirektor adoptiert werden, lehnte dieses Angebot aber aus dem Verantwortungsgefühl für die vaterlosen, verwaisten Geschwister ab.
Ihre Welt gibt es nicht mehr; alles hat sich geändert. Großvater Stefan hatte noch Vertrauen in die Natur, der heute "die moralische Autorität aberkannt worden ist". (Z. Bauman) - der Großvater ließ die Betrunkenen im Korn liegen, überzeugt davon, daß ihnen dort nichts widerfahren könne. Der der Natur vertrauende Mensch wurde durch ein technisiertes Tier ersetzt, "das die bereits schwächer und gröber werdenden Instinkte durch das Riesenhafte der Technik zu ersetzen beginnt."10 Das Haus meiner Großeltern steht nicht mehr: Es ist nicht nur abgerissen worden, sondern die Erde, auf der es stand, wurde tief ausgebaggert (das Haus meiner Kindheit ordne ich in der Luft an) - in den siebziger Jahren wurde dort eine Fertighausfabrik gebaut. Sie ging Pleite, kurz nachdem Balcerowicz den Kapitalismus wiederbelebt hatte. Das Betriebsgelände wird jetzt von verschiedenen Firmen angemietet, und auf dem Platz gibt es einen der zwei Automärkte von Mysłowice.
Als Großvater Stefan das Abitur an der Abendschule abgelegt und das Zeugnis ausgehändigt bekommen hatte, kehrte er mit einem Schwips auf dem Feldweg nach Hause zurück, sang (wie gewöhnlich) und hielt jenes Zeugnis über dem Kopf. Als ob er der Natur verkünden wollte: Freuen wir uns, Otkowicz hat das Abitur geschafft, aber es hat ja sowieso keine Bedeutung im Angesicht von Vergehen und Tod. Warum schreibe ich darüber? Als wäre ich des Instrument des Wortes (des Logos), das von Großvater das ganze Leben hinweg geringgeschätzt wurde? - Notabene: Die Abiturprüfung in Polnisch wurde für den Großvater geschrieben, weil er während der Prüfung zu einer Rettungsaktion gerufen wurde. Über den selben Feldweg hin ging ich zur Schule, um zu versuchen, den eigenen Großvater endlich zu begreifen, in der Erzählung festzuhalten - als hätte ich ihm an diesem Weg (mehr in der Zeit als im Raum - natürlich) auflauern wollen. Würde ich nur zu diesem Zwecke schreiben?
Ich erteile darauf - obwohl das in den Geisteswissenschaften selten vorkommt - eine direkte Antwort, obwohl sie (das weiß ich) weder erschöpfend noch einfach ist. Ich schreibe über meine Großeltern, da ich, nachdem ich Beiträge zur Philosophie, wohl das bedeutendste Werk Heideggers gelesen habe, nicht mehr ganz sicher bin, daß das Leben keinen Sinn hat. Sinnlosigkeit ist der erste, oberflächliche, klare Eindruck. All unser Tun ist der endgültigen Erfolglosigkeit geweiht: "die traurige menschliche Sinnlosigkeit" (J. Joyce). Alle unsere Projekte, Programme, Absichten "sind nicht auf Stein, sondern auf Sand gebaut" (zur Paraphrasierung Heideggers "wir sind im Grundlosen gegründet"). Bei der Verwirklichung unserer Programme erfahren wir durchdringende Einsamkeit, besonders in den Niederlagen. Zu Recht stellt Heidegger fest, daß das Leben aus der Perspektive des Individuums betrachtet am häufigsten als "leeres Und-so-weiter" dasteht, als "Ruhelosigkeit der stets erfinderischen Betriebsamkeit, in die wir uns flüchten, aus Angst davor, daß wir uns selbst langweilig vorkommen", die unsere billigste Abwehr gegen den Nihilismus ist. Aber das Leben eines jeden von uns ist doch einmalig, nicht wiederholbar, begrenzt und denkwürdig.
Man bewertet das eigene Leben anders, wenn man auf das eigene Tun mit den Augen jener schaut, die vor uns gelebt haben, die neben uns leben und die nach uns leben werden, wenn - mit Heidegger - nach dem Sinn des Seins, nach der Wahrheit des Seins gefragt wird. Dann ist die Gesamtheit schwer als Sinnlosigkeit abzutun, das Gefühl, daß es doch einen Sinn hat, führt uns an die Feststellung heran: sie muß sinnvoll sein, das ergibt sich schon aus der Beständigkeit ihres Fortbestehens ("Seyn muß wesen"11 - wiederholt Heidegger vielfach). Dahingegen ist es schwer, diesen Sinn aufgrund des Übermaßes, der Heterogenität und der Zufälligkeit des Geschehens zu bemerken und zu erfassen: alles ändert sich, ständig entsteht Neues, die Ergebnisse von Prozessen sind eher aleatorisch (nach Rorty hat Mendel die Evolution ihrer sie krönenden Teleologie beraubt) - selbst die Kombination ist meistens zufällig. Die Wirklichkeit erinnert an Magma, eine schwer faßbare, breitfließende Masse.
Die größte Auszeichnung, die wir deshalb auf unserer Suche nach dem Sinn erhoffen können, ist irgendein kleines Kontinuum, eine Spur von Ordnung im Zufälligen, ein Aufflackern des Sinns zu entdecken. Große Offenbarungen sind schon nicht mehr möglich, bemerkt Heidegger. Meine Großeltern sind tot, ihre Welt ist vergangen. Auch den Ort, an dem ihr Haus stand, gibt es nicht mehr. Ein Dialog mit ihnen ist nicht mehr möglich: Großvater Stefan antwortet mit Schweigen, Großmutter Marika - mit einem Schwall bedeutungsloser Wörter. Hat es noch irgendeinen Sinn, an sie zu denken? Es hat keinen, wenn wir den Tod infantil und einfältig auffassen: als Abbruch, Aufhören und Verschwinden dessen, was einmal gegenwärtig war. Die Feststellung Heideggers, "der Tod ist das höchste Zeugnis des Seyns"12, ermöglicht das Verständnis des Todes als einer Dimension des Seins und erweckt die Hoffnung, daß der Tod ins Leben einzubinden sei; daß das Sprechen und Nachdenken über den Tod das Leben verändert.
Im allgemeinen "eile ich" - wie der Held des Liedes der Gruppe "Perfect" - "durch den Tag und träume von nichts". Einmal jedoch hatte ich einen Traum mit so viel Symbolik, daß ich ohne Eliady und Jung nicht zurechtgekommen wäre. In diesem Traum war ich ein Clochard, worin mit Sicherheit das Bewußtsein eines Geisteswissenschaftlers zum Ausdruck kam, der sich in die auf Konsum und Gedankenlosigkeit ausgerichtete Epoche nicht fügen will, der aber, um zu überleben, sich von deren Abfällen ernähren muß. Als ich den Traum im Freudschen Sinne zu analysieren begann, setzte ich bei jenen Elementen an, die der Realität entnommen wurden und ich entdeckte zuerst die Genese meiner Bekleidung. Auf dem Kopf hatte ich einen verschlissenen, verschmutzten dunkelgrünen Hut, der an einen Tirolerhut erinnerte - in genau so einem Hut fuhr Onkel Antek (Großmutters Bruder) mit seinem Fuhrwerk aufs Feld; bekleidet war ich mit Großmutters altem braunem Arbeitsmantel, den sie anzog, wenn sie die Hühner füttern ging.
Ich vermag nicht zu erklären, was Onkel Antek, Großmutter Marika und Großvater Stefan in mir machen - der Sinn ihrer Anwesenheit ist mir selbst unklar. Noch weniger könnte ich über ihre Absichten sagen - welche geschichtliche Aufgabe werden sie in mir zu verwirklichen haben, wo doch ihre Zeit längst vergangen ist? ("Das Seyn braucht den Menschen, damit es wese, und der Mensch gehört dem Seyn..."13 - lehrt Heidegger.) Ich weiß jetzt nur, daß niemand einsam ist, denn niemand ist allein, meine Einsamkeit ist höchstens ihre oder unsere Einsamkeit. Meine einschlägige Erfahrung läßt mich an Erlebnisse einer der Figuren aus den Erzählungen von Joyce denken, die in folgenden Worten geschildert wurden: "Seine Seele hatte sich jener Region genähert, wo die unermeßlichen Heerscharen der Toten ihre Wohnung haben. Er war sich ihrer unsteten und flackernden Existenz bewußt, aber er konnte sie nicht fassen. Seine eigene Identität entschwand in eine graue ungreifbare Welt: die kompakte Welt selbst, die sich diese Toten einstmals erbaut und in der sie gelebt hatten, löste sich auf und verging."14
Aus dem Polnischen von Ulrike Bischof
Anmerkungen des Übersetzers
1. Romain Rolland: Meister Breugnon. Deutsch von Erna und Otto Grautoff. Aufbau-Verlag 1983, TDW, "An den Leser", S. 9.
2. a.a.O. S. 10.
3. Roland Barthes: Die helle Kammer - Bemerkung zur Photographie. Suhrkamp 1989, S. 17.
4. Susan Sontag: Über Fotografie. Fischer Verlag, September 1980, S. 72.
5. s. Anm. 3, S. 47.
6. s. Anm. 4, S. 28.
7. s. Anm. 3, S. 29.
8. Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main, 1989, S. 139.
9. Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita. Aufbau-Verlag 1983, S. 270.
10. s. Anm. 8 I. 45, S. 98.
11. a.a.O. I. 2, S. 7.
12. a.a.O. IV. 117, S. 250.
13. a.a.O. IV. 133 S. 251.
14. James Joyce: Dubliner, Spektrum Kurzgeschichten. Volk und Welt Berlin 1977, S. 210.
Stefan Szymutko - geb. 1958. Assistent am Lehrstuhl für die Nachromantische Literatur der Schlesischen Universität. Vorsitzender der Teodor-Parnicki-Literaturgesellschaft und ein großer Liebhaber des Werks dieses Schriftstellers. Veröffentlichte Zrozumieć Parnickiego (Parnicki verstehen) - eine Monographie über einen der besten Romane dieses unterchätzten Autors - Koniec "Zgody Narodów" (Das Ende der "Verständigung der Völker"). Schreibt für die Fach-, Literatur- und gesellschaftlich-kulturelle Presse. Lebt in Mysłowice.