1. Tadeusz Komendant ist eine der größten Offenbarungen in polnischen Essays der letzten Jahrzehnte. Dieser Satz ist ausnehmend unschön, denn ich vergegenständliche mit ihm den Schriftsteller, doch mir fällt nichts anderes ein, was meine tiefsten Überzeugungen angemessen zum Ausdruck brächte. Ich glaube sogar, daß, wenn Komendant in einem gewissen Moment nicht zur Feder gegriffen hätte, unsere Literatur einen größeren Verlust erlitten hätte, als wir uns das vorstellen könnten. Es handelt sich hier nicht nur um die Bücher, die von seiner Hand stammen oder von ihm übersetzt worden sind, es handelt sich vor allem um den Schreibstil, seine Art zu denken, zu schlußfolgern, unnachahmlich, eigen, souverän.
Komendants schriftstellerisches Schaffen kommt leichtfüßig daher, hat Witz, einen ganz eigenen Ton, Charme, seine Kadenz. Der Leser wird jedesmal vom Essayisten verführt, doch stets seriös behandelt. Dort, wo bei anderen kokettiert wird, herrscht hier eine Aura freien, unbefangenen Scharfsinns. Komendant schätzt die Literatur allzu hoch, um nicht zu wissen, daß es letztendlich der Leser ist, der den Schriftsteller erwählt. Jede Unaufrichtigkeit oder unkluge Bemerkung wendet sich irgendwann gegen den Autor.
Trotz der Eleganz des Stils, der Reiz der Sprache, mißt sich jedes Buch von Tadeusz Komendant an Problemen, von denen wir mit Gewißheit annehmen, daß sie nicht leicht lösbar sind. So war es in Zostaje kantyczka (Das Kirchenlied wird bleiben), einer Sammlung von Essays über die Verwicklungen des polnischen Geistes und der Sprache, die mit der Tradition und ihren Mythen ringen, sich zur Unabhängigkeit aufzuschwingen versuchen, die die Last abwerfen wollen, die sie niederbeugt. So ist es auch in Lustro i kamień (Spiegel und Stein), einem Werk-Prozeß, in dem die Problematik der Identifiktion des Individuums verknüpft wird mit der Frage nach der kulturellen Identität der Einzelwesen in Zeit und Raum. Und, damit wir uns nicht allzu wohl fühlen, fort und fort gegenwärtig ist darin die Frage nach der Gestalt unserer geistigen Tradition. Bestimmt das, was uns beeinträchtigt, auch unseren Ursprung?
2. Solche Bücher lassen mich immer frösteln, ich stehe ihnen hilflos gegenüber, bin ich mir doch nur allzu sehr bewußt, daß ich, wenn ich sie auf die übliche Weise bespreche, ihr Gewebe zerstöre. Nichts läßt sich später dann noch retten. Vielleicht sollten Lustro i kamień daher besser postmoderne (oder dekonstruktive) Interruptisten, die vor Witz sprühen, vor Ironie funkeln, scharfsinnig in ihren Assoziationen und voller Einsprüche bei wortschöpferischem Gebalze sind, rezensieren... Da es jedoch nun einmal ist, wie es ist, mag es auf alte, traditionelle, unzulängliche Weise von statten gehen. Eine Rezension im alten Stil über die moderne "Nikiform", die vor den Augen meiner Seele vorbeigeglitten ist wie ein Schwarzweißfilm.
3. Ŕ tout seigneur tout honneur... Ryszard Przybylski sagt einleitend zu Lustro i kamień von den hermeneutischen Neigungen des Autors, daß diese durch den Geburtsort des/der Helden determiniert sind: "eines schlichten Naturells aus östlichen Randgebieten", Witold Sutułas und des Kommentators seiner Bekenntnisse, des Doktors der Wissenschaften Tadeusz Komendant, der "im Spiegel gelehrten Wissens" den Wunsch hat, "bei Gelegenheit den Reflexionsmechanismus zu untersuchen" (S. 5). Przybylski schreibt darüber so:
"Die kulturellen Wurzeln wachsen [...] zwischen den Texten. Jede Tradition braucht wenigstens zwei Burschen aus demselben Dorf, derselben Gegend, derselben Gemeinschaft. Infolgedessen haben wir diesmal zu allererst einen Text, der spontan, wie im Schlaf, geschrieben wurde, von einem, Wilden aus der Provinz. Im folgenden dann lesen wir den von einem Intellektuellen geschriebenen Text, der seine heimatlichen Gefilde verlassen, sich an Universitäten von Hauptstädten fortgebildet und kluge Bücher verschlungen hat, geschaffen von den Leuchten europäischer Kultur eben zu dem Zweck, daß er den Sinn der Erfahrung entdeckte, wie sie sein Landsmann niedergeschrieben hat" (S. 5).
Und weiter heißt es: "Komendant macht mit Freuden die Entdeckung, daß die Denknormen des ,schlichten Naturells, die ihm aufgenötigt werden durch die in der Provinzgemeinschaft verbindlichen Normen, sich decken mit dem Modellverhalten der Helden nationaler Meisterwerke. Das Wissen um die Kultur bestätigt auf diese Weise die überaus seltsame, beinah übernatürliche Wechselbeziehung zwischen dem Jungen aus einem gottverlassenen Nest und dem mythischen Protagonisten der Gemeinschaft. Das, was durch den Mythos in den Himmel gehoben wurde, reckt seine Wurzeln in die Dorferde, die rückständige Provinz. Der Hermeneut entdeckt dann, daß es zwischen dem heutigen Leben und der Wahrheit des romantischen Mythos keinen Hiatus gibt; daß die Historie eines jeden zeitgenössischen Menschen die Literatur ist" (S. 6).
Krzysztof Rutkowski knüpft in seiner großartigen (wenn auch ein wenig schwadronierenden) Rezension von Lustro i kamień (Komendant, czyli śmierć i zmartwychwstanie Pana Tadeusza [Komendant, Oder Tod und Auferstehung des Herrn Tadeusz], "Twórczość" 1995, Nr. 5) an Przybylskis Worte an, indem er die folgenden wichtigen Sätze hinzufügt: "Ich spürte, daß die Entdeckung des ,Hermeneuten auf noch mehr beruht: vielleicht darauf, daß der Hermeneut angesichts der Erfahrungen des Körpers und des Wahnwitzes der Ratio, der Sinne und Traumgebilde nicht minder ratlos dasteht als Gustaw aus Pokośno. Pamiętne dni przeszłości (Die denkwürdigen Tage der Vergangenheit) schweben über uns allen" (S. 106). Und weiter: "Komendants Essay erzählt von dem verlorenen ,kleinen Vaterland: jeder von uns hat es verloren, ähnlich wie die Unberührtheit - je schneller, um so besser... Es erzählt von der großen Liebe und von den großen Enttäuschungen: durch Vaterland, Muttererbe und Literatur. Es spricht demzufolge von Dingen, die ein schlechter Stilist den ,Eckstein eines jeden Lebensweges nennen würde" (S. 107).
Krzysztof Uniłowski hat mich - im privaten Gespräch - aufmerksam gemacht auf die Rivičre-Provenienz von Lustro i kamień. Der Band "Literatura na Świecie" (1988, Nr 6), in dem Tadeusz Komendants Übertragungen des Bekenntnisses des Mörders Pierre Rivičre und auch der Kommentare dazu von Jean-Pierre Peter und Jeanne Favret sowie Michel Foucault veröffentlicht sind, scheint sich in der Tat nahtlos anzuschließen an die besprochene "Nikiform". Lustro i kamień nähme also aus Geist und Schule Foucaults seinen Anfang.
Entfalten wir doch diesen letzten Gedanken. Der Kommentar Tadeusz Komendants zu Pamiętne dni przeszłości von Witold Sutuła ist von der gleichen Art. Wie die Anmerkungen Peters, Favrets und Foucaults zum Geständnis Pierre Rivičre. Es existiert sogar eine Ähnlichkeit bei den Bezeichnungen der Paragraphen des Essays von Peter und Favret und den Scholien Komendants. Die aufzählenden Titel ersterer lauten: "Monster, gleiche"; "Gerichte, Launen"; "Blut, Schrei" u. dgl. Und bei Komendant: "Moden, Haus"; "Pflaster, Druck"; "Garten, Gericht" und dgl. Komendant, ein Mann des Diskurses, geht, das Bekenntnis der schlichten Seele Witold auffindend, mit ihm genauso um wie die Kritiker der Foucaultschen Schule mit dem Bekenntnis der schlichten Seele Rivičre. Die ius fruendi ist in beiden Fällen Entdeckerrecht, doch zugleich ist sie die Schuldigkeit des Entdeckers. Nein, das ist falsch ausgedrückt: Sie ist seine Notwendigkeit, in gewissem Sinne eine rücksichtslose Notwendigkeit. Damit ist die Ähnlichkeit auch schon zu Ende. Von diesem Punkt aus geht jeder seines Wegs.
4. Ich weiß nicht, ob Pamiętne dni przeszłości des Witold Sutuła aus Pokośno ein echtes Tagebuch ist oder ein fiktives. Die Märznummer von "Twórczość" aus dem Jahr 1992 ist mir abhanden gekommen, wo man zum erstenmal ein Buch von Komendant abgedruckt hat, ich kann folglich nicht nachprüfen, was mir in Gedanken vorschwebt, nämlich daß dort Seiten eines echten Heftes publiziert waren. Letztendlich ist das auch ohne die Erfahrung des Privaten, die intime gegenseitige Abgängigkeit dessen, der aufs neue die authentischen (oder von ihm erdachten) Notizen eines authentischen (fiktiven) Menschen liest, zu dem, der nur im Raum einer wirklichen (fiktiven) Welt existieren kann. Keine andere Relation hat hier Daseinsberechtigung. Diese ist übergeordnet und einzig.
Komendant folgt Sutułas Spur, entfernt sich aber auch weit von ihr. In dem Raum, der ehemals auch der seine war, sucht er sich selbst und sucht die Zeichen der Kultur, die deren zivile, neuzeitliche und europäische Form bestätigen. Komendants Scholien sind so zerrissen wie Sutułas Aufzeichnungen. Die einen wie die anderen mit dem Wissen um Entwurzelung, Unbehaustsein (vgl. S. 62-63), versuchen aufs neue Wurzeln zu fassen, wenn nicht in der alten Welt, so doch wenigstens im Mythos jener Welt. Im Schreiben. Die Pointe des Scholium "Falte, Szene" ist hier bedeutungsvoll: "fast jeder von uns hat ein kleineres Vaterland verloren, die Heimat. Bewußt oder unbewußt, nach Schicksals Willen oder aus eigener Dummheit. Und er weiß, daß man nur schreibend, wie ich das in diesem Augenblick tue, es vielleicht zurückerlangen kann" (S. 90).
5. Das Schreiben. Witold Sutuła schreibt seine Biographie, und wenn diese für ihn irgend einen Sinn hat, dann liegt dieser im Schreiben, in der Abstimmung des Standpunkts zwischen dem, was man sagte oder hörte (denn die Sprache spielt hier eine ebenso wichtige Rolle wie die Schrift), und dem, was man erinnert, was man in Erinnerung behalten will und was man unbedingt schriftlich fixieren möchte. Die eigene Biographie unterscheidet sich nicht sehr von Najnowocześniejsza sztuka świata w trzech aktach. Rok 1939-1945 (Die modernste Kunst der Welt in drei Akten. 1939-1945), von der Komendant sagt, daß "(sie) an das in eine Form gefaßte Gedächtnis zu denken befiehlt" (S. 91). Diese Form taucht hier unablässig auf, und wie sollte man nicht einverstanden sein mit der Supposition, daß Witolds Welt einfließt in den Rhytmus des vierten (Witolds Liebe zu Zosia) und dritten (Najnowocześniejsza sztuka...) Teils der Ahnenfeier. "Nicht nur der Faden der Schrift, dünner als eine Spiegeloberfläche, stopft die gewendeten Welten", pointiert Komendant in seinem Scholium (S. 101), um an anderer Stelle zu sagen, daß das alles eine theatrale Lösung des Konflikts" ist (S. 88).
6. Die Literatur. "Witold wurde von der Literatur verehrt. Einer unschuldigen, wie er. [...] für gewöhnlich entsteht kein neues Leben daraus, sondern Vernichtung" (S. 81). Witold tritt ein in den Raum literarischer Kultur, die er nicht kennen konnte; dennoch tritt er ein, findet die subkutanen Falten wieder, die ihn mit den Vergangenheitserfahrungen verbinden. Die Konfession beginnt auf der Veranda der Mickiewiczs und endet im Haus der Sienkiewiczs. Komendant kommentiert das so: "Namen, die in der geschilderten Welt real existieren (aber warum eigentlich die?), sind wir als symbolisch zu entziffern geneigt, mit dieser Leserentscheidung bestätigend, daß der Text einer anderen Logik unterliegt" (S. 87). Vielleicht der: vom Drama der Existenz (Liebe zu Zosia) über die Stärkung der Herzen (Najnowocześniejsza sztuka...). Das aber ist nicht mehr allein der Mickiewicz der Ahnenfeier, sondern das ist auch Sienkiewicz, durch Gombrowicz gefiltert.
Die literarischen Bezugnahmen sind hier vielfältig. Tadeusz Komendant, eigentlich Urheber dieses ganzen Wirrwarrs mit Witold, fügt alle Augenblicke neue Namen in seine Kommentare ein. Und indem er die Assoziationskette in Gang setzt, führt er uns in Welten ein, die Witold nur träumen konnte, während sie sich dem Gelehrten als Kraft der Erinnerung, der Reminiszenz von Lektüre u. dgl. offenbaren. Zwischen dem "schlichten Naturell" aus Pokośno und dem eloquenten Editor kommt es zu einem besonderen Beziehungsgeflecht. Er wäre nicht jenes "schlichte Naturell", wenn nicht die Hartnäckigkeit des Kommentators wäre, aus seinem Landsmann eine Persönlichkeit in statu nascendi zu machen; hinwiederum gäbe es dieses Buch nicht, wenn da nicht jenes "schlichte Naturell" wäre, das primum mobile des ganzen Geschehens...
7. Es ist ein sehr gescheites Buch. Geschrieben für einen Leser, der seinen Platz in der Kultur kennt, doch vielleicht treiben ihn Fragen nach der Beständigkeit der eigenen Identifikation, der Identität um. Neben Krótka historia pewnego żartu (Kurze Geschichte eines gewissen Scherzes) von Stefan Chwin, Paweł Huelles Weiser Dawidek, ist Lustro i kamień ein weiteres (Generations-) Buch über die Problematik des "kleinen Vaterlands". Das heißt in letzter Konsequenz - ein Buch über uns.
Tadeusz Komendant: Lustro i kamień. Prywatny sylogizm (Spiegel und Stein. Privater Syllogismus). Einleitung Ryszard Przybylski. Kraków: Oficyna Literacka 1994.
Aus dem Polnischen von Karin Wolff
Marian Kisiel - geb 1961. Literaturkritiker und -historiker (polnische Literatur des 20. Jhs.). Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für die Literatur der Gegenwart der Schlesischen Universität. Autor der Abhandlungen: U podstaw twórczości Adama Czerniawskiego (Die Grundlagen des Werks von Adam Czerniawski), Gliwice 1991; Świadectwa, znaki. Glosy o poezji najnowszej (Zeugnisse, Zeichen. Glossen zur jüngsten Lyrik), Katowice 1998; Od Różewicza. Małe szkice o poezji. (Von Różewicz. Kleine Skizzen über die Poesie), Katowice 1998. Mitarbeiter von vielen lokalen und überregionalen Zeitschriften. Leiter der Abteilung für Literaturkritik der Kattowitzer Zeitschrift "Śląsk". Veröffentlichte vier Gedichtbände. Sein Forschungsgebiet sind die Veränderungen in der polnischen Literatur der Kriegs- und Nachkriegszeit und die literarische Kultur dieser Zeit. Gegenwärtig arbeitet er an einer Abhandlung über das literarische Bewußtsein in Polen inder Zeit des politischen Umbruchs 1956. Lebt in Katowice.
Aus der Schule Michel Foucaults
Napisane przez Marian KisielTadeusz Komendant ist eine der größten Offenbarungen in polnischen Essays der letzten Jahrzehnte. Dieser Satz ist ausnehmend unschön, denn ich vergegenständliche mit ihm den Schriftsteller, doch mir fällt nichts anderes ein, was meine tiefsten Überzeugungen angemessen zum Ausdruck brächte. Ich glaube sogar, daß, wenn Komendant in einem gewissen Moment nicht zur Feder gegriffen hätte, unsere Literatur einen größeren Verlust erlitten hätte, als wir uns das vorstellen könnten. Es handelt sich hier nicht nur um die Bücher, die von seiner Hand stammen oder von ihm übersetzt worden sind, es handelt sich vor allem um den Schreibstil, seine Art zu denken, zu schlußfolgern, unnachahmlich, eigen, souverän.
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Brda
BRDA: ^^^^. Wydawnictwo jest owocem kilkumiesięcznych zmagań muzycznych, literackich i graficznych dwójki muzyków: Marka Maciejewskiego oraz Marcina Karnowskiego. Płytę w wersji CD dołączono do numeru 3/2012 kwartalnika literackiego „FA-art”. Jest ona „muzyczną odpowiedzią na dzieło Marcela Prousta".