Gab es einen Umbruch?
Wir erinnern uns gut daran, daß 1990 (und auch noch im Jahr darauf) ziemlich viel über unsere literarische Gegenwart geschrieben wurde. Dabei hatten wir stets den frischen Leichnam Volkspolens vor Augen. Ja, es geht mir hier um jene literaturkritischen Äußerungen, die versuchten, eine Bilanz der Epoche zu ziehen, zugleich aber mehr oder weniger elegante Abrechnungen mit der Literatur aus der Zeit der Volksrepublik Polen waren. Noch etwas möchte ich hinzufügen: An dieser Stelle interessieren mich die Versuche, die Erfahrungen der Prosa zusammenzufassen, und zwar sowohl diejenigen, in denen man versuchte, die achtziger Jahre zu erfassen und zu beschreiben, als auch die anderen, die mit der gesamten Zeitspanne der fünfundvierzig Jahre rangen.
Wie wir uns erinnern, verspürte man damals einen gewissen "Herden-Ehrgeiz". Wohl jeder tätige Kritiker, insbesondere aber diejenigen, die sich mit der zeitgenössischen Prosa befaßten, versuchten, die Vergangenheit abzureagieren, ein Requiem auf die "alte" Literatur zu zelebrieren und das "Neue" zu begrüßen oder versuchten zumindest, Prognosen für "das Neue" zu erstellen.1 Eigentlich gab es in dieser Bilanzdiskussion, die vor wenigen Jahren stattgefunden hat, weder Originelles noch besonders Abstoßendes. Das Niveau der Nörgelei hielt sich in den oberen Grenzen des Mittelmaßes, und daß man bei der Gelegenheit die Leichen der literarischen Institutionen des "ancien regime" sowie einen beachtlichen Teil der Bücher selbst mit Füßen trat, nun, so war eben die Zeit, und anders konnte es nicht sein. Übrigens, zeigt mir irgendeine Bilanz aus der Vergangenheit, zum Beispiel über den Zustand der Gegenwartsliteratur am Ende einer Dekade (solche Intervalle sind zur Gewohnheit geworden), die optimistische Schlußfolgerungen aufweist. Es ist immer das Gleiche: Es mangelt an bedeutenden Ausführungen, man wartet auf ein Meisterwerk, es gibt verschiedene "statt dessen", Schriftsteller weichen aus oder desertieren, Kritik der Kritik - mit einem Wort, Misere und undeutliche, unklare Hoffnungen.
Erstaunlich leicht und als allgemein gültig stellte man in der Diskussion, die ich hier meine, fest, es habe einen Umbruch im literarischen Leben gegeben. Die Wahl fiel auf das Jahr 1989. Was bedeutet eigentlich diese Zäsur, und vor allem, ist es ein gutes Datum? Tauchte nach 1989 eine "neue" Prosa auf, oder kann man "neue" Qualitäten in den nächsten Jahren erwarten? Über diese Fragen möchte ich einen Augenblick nachdenken. Bevor ich aber etwas über Diagnosen und Prognosen (die möglichen und die unmöglichen) sagen werde, muß ich diesen Umbruch anno 1989 hinterfragen.
Im Grunde genügt dabei die aufmerksame Lektüre einiger der bereits erwähnten Bilanzen, und sei es in dem klaren Beitrag von Edward Balcerzan Żywioły prozy w PRL (Die Grundelemente der Prosa der VRP), in dem von der Zeitspanne zwischen 1976 (der Geburt des "zweiten Umlaufs", der Untergrundliteratur) und 1989 (der Abschaffung der Zensur) die Rede ist. Das Wichtigste ist hier, daß man nicht so tut, als ob der Umbruch (sowohl 1976 als 1989) einen ästhetischen Charakter gehabt habe. Das Jahr 1989, ein durch und durch politisches Datum, wäre also lediglich ein bequemer Orientierungspunkt, der das äußere Dasein der Prosa beschreibt, denn die innere Dynamik erklärt dieser Autor ganz anders.
Man darf also keinen Augenblick außer acht lassen, daß es eine einfache Unterscheidung gibt zwischen der Lage, in der sich die Literatur befindet und der Literatur selbst. Wenn also die politischen Veränderungen keinen grundlegenden Einfluß auf die Literatur an sich hatten, was dann? Vielleicht waren es all jene Erscheinungen, die mit der Politik eng verwandt sind? 1989 lehnte man den Druck des neuen Buches von Józef Łozinski ab, nachdem er - Ironie des Schicksals - seine wohl besten Romane, Paolo Apostolo Mart (1986) und Statek na Hel (1988, Ein Schiff nach Hel) veröffentlicht hatte. Etwas später kündigte man die Verlagsverträge mit Schriftstellern von so unterschiedlicher politisch-literarischer Provenienz wie Dariusz Bitner und Kazimierz Orłoś. Zur gleichen Zeit eilte Tadeusz Siejak von Verlag zu Verlag mit dem Manuskript des vierten Teiles seines Romanzyklus Dezerter (Der Deserteur). Und wieder handelte es sich wohl um das beste Buch dieses Autors, wie man nach der Lektüre seiner Auszüge in der literarischen Presse mutmaßen kann.
Was ist nun eigentlich wirklich geschehen (und was geschieht eigentlich)? Kann die Tatsache, daß man sich auf den "unsichtbaren Arm des Marktes", also auf die Kategorie "Gewinn" beruft, als ausreichende Erklärung dienen? Bis zu einem gewissen Grad sicher, ja. Aber es gibt noch etwas anderes, und wer weiß, ob es nicht das Wichtigste ist. In den Tagen des politischen Umbruchs ist das neue literarische Establishment im Triumph erstarkt, es versuchte, überall dort Beute zu machen, wo dies möglich war und sich in den Ruinen einzunisten, die nach der verstorbenen Kommune übriggeblieben waren. Irgend jemand hat diese Situation beschönigend als "übermächtige Anwesenheit der 68er-Generation" bezeichnet, um es genauer zu sagen, des dichterischen Flügels dieser Formation. Es handelt sich um Angehörige der literarisch-oppositionellen Salons, vor allem um diesen seinen Teil, der seltsamerweise die neueste politische Prosa nicht vernahm oder schlichtweg feststellte, daß es sie nicht gibt.
Auch weiterhin ist das Jahr 1989 als Grenze oder Zäsur ziemlich blaß, was ich hiermit zu belegen suche. Vergleicht man zum Beispiel den Oktoberumbruch von 1956 mit der Trennungslinie 1989, so liegt es auf der Hand, wie miserabel sich diese zweite Zäsur darstellt. Der erste Umbruch hat schließlich eine Welle wichtiger neuer Talente in der Prosa hervorgebracht. Einzelne Erzählungen oder Bände von Kurzgeschichten veröffentlichten Marek Hłasko, Sławomir Mrożek, Marek Nowakowski und Stanisław Grochowiak. In der Zeit zwischen 1956 und 1958 wurden mindestens ein Dutzend von Romanen herausgegeben (Tadeusz Konwicki, Leopold Buczkowski, Jerzy Andrzejewski, Teodor Parnicki u.a.), die keinesfalls als Dutzendware eingestuft werden konnten. Andererseits hat man auf den Wellen des Tauwetters eilig und nicht vollständig einige bedeutende Emigranten in den literarischen Kreislauf an der Weichsel eingebracht, das heißt die Prosa von Witold Gombrowicz, Maria Kuncewiczowa und Melchior Wańkowicz, um nur diese drei zu nennen. Und wie sieht es heute aus nach dem Jahr 1989? Als man den großen Sack, gefüllt mit der Emigrationsprosa, gefahrlos aufknoten konnte, denn die Zensur war in Polen aufgehoben, stellte sich zunächst einmal heraus, daß er im Vergleich zu den Erwartungen (zu dem Appetit der Leserschaft) ziemlich leer war und zweitens, was man darin fand, war Prosa, die keine große Begeisterung hervorrief. Es waren insbesondere nicht aufgebrauchte Vorräte und wählerisches Gehabe. Der ungestüme Nachholbedarf, vor allem in Bezug auf Werke, die schon vor Jahren erschienen waren (zum Beispiel gleich fünf Bücher über das literarische Schaffen von Gustaw Herling-Grudziński, die kurz aufeinander folgten) und die Bekanntschaft mit der Prosa, die bis dato am wenigsten von der Zensur geduldet wurde (Józef Mackiewicz) - das ist dann wohl auch schon alles gewesen. Und schließlich fällt mir noch ein letztes Element des Umbruchs ein, des ersten und des gegenwärtigen neuen. Nach 1956 ergoß sich die Literatur des Westens wie ein breiter Strom über Polen und sie wiederum konnte selbstverständlich auf die künstlerische Form der polnischen Prosa einwirken. In dieser Beziehung enttäuscht der Umbruch von 1989 am stärksten, denn es stellte sich heraus, daß man alles bei uns übersetzen und verlegen kann, nur ist das Unangenehme dabei, daß man auch die Lizenzen kaufen muß, denn die Leute aus dem Westen sind so beschaffen, daß sie nicht einmal umsonst den kleinen Finger rühren. Nebenbei bemerkt, findet in der Zeit um das Jahr 1989 ein deutlicher Umbruch auf dem Gebiet der leichten und seichten Prosa statt (Hunderte von Titeln aus dem Bereich der Sensationsliteratur oder Pornographie werden verlegt). Ich habe aber gewisse Hemmungen, diese Tatsache als Argument für den Umbruch in der polnischen Literatur an sich zu gebrauchen.
Es wird Zeit, die ersten Schlußfolgerungen zu ziehen. Keine der bisher angeführten Mutmaßungen genügt, um den Umbruch auf das Jahr 1989 überzeugend festzulegen. Ist es so, daß das Zusammenfassen dieser wenigen (sicher nicht aller) Umstände genügt, um die literaturkritische Fiktion zu entlarven, die doch gestern erst entstanden ist? Ziehen wir in Betracht, daß die Konfrontation der Zäsuren der Jahre 1956 und 1989 - und das hatte ich versucht, hier klarzumachen - noch ein negatives Argument hergibt, so ergibt sich die Antwort von allein. Man muß nämlich klar und deutlich sagen: Der politische Umbruch von 1989 hat nichts verändert. Bei der Analyse der neuesten Prosa kann man also gut und gerne dieses Datum vergessen.
Zu einer solchen Feststellung brachten mich unter anderem zwei Gedankengänge von Jan Błoński. Der eine ist ziemlich alt und in unserer Gedankenwelt über die moderne Literatur fest verwurzelt, und zwar "daß es keine grundsätzliche Zäsur zwischen der Literatur der zwanziger Jahre und der Literatur der Volksrepublik Polen gibt".2 Von hier ist es nur noch ein Schritt bis zu der Vermutung, daß es keine Zäsur zwischen der Literatur der Volksrepublik Polen und der der Republik Polen gibt. Das grenzt an Banalität.
Der zweite Gedanke lautet: "Die intellektuellen Veränderungen fanden in den sechziger, insbesondere aber siebziger Jahren statt, beherrschten die Gedankenwelt der Öffentlichkeit aber erst in den achtziger Jahren. Daher kündigt das achte Dezennium eine völlig neue Literatur, eine völlig neue Epoche der kulturellen Entwicklung an. In dieser Hinsicht ist das Jahr 1989 sicher genau so wichtig wie 1918."3 An der Stelle, aus der ich dieses Zitat entnommen habe, wurde der letzte Satz durch Sperrdruck hervorgehoben. Nicht nur aus Eigensinn, sondern aus wichtigen Gründen, die ich im weiteren erläutern werde, betone ich den ersten Satz dieses Zitats. Warum? Zunächst will ich noch eine fremde Meinung zitieren: "Ein schwarzer Strich, der das Gewesene trennt von dem, was da kommen wird, ist eine geschickte rhetorische Wendung in einer Parlamentsansprache, doch ist es schwer, eine solche Redewendung in der literarischen Materie anzuwenden und zu behaupten, das Jahr 1989 sei ein Umbruch wie es das Jahr 1918 gewesen war, denn 1989 fand die Prosa der Volksrepublik Polen ein Ende und es begann die Prosa der hochwohlgeborenen Republik Polen"4 - das stellte anderthalb Jahre später Tadeusz Komendant fest.
Aber nicht die Rhetorik ist das Wichtigste, interessanter ist die Poetik, also die Frage nach jener intellektuellen Veränderung vor einigen Jahren.
Wann fand nun der Umbruch statt?
Natürlich gibt es kein universales Datum, lassen wir uns aber von dem bisher Gesagten inspirieren, dann müßte man nach dem Umbruch in der polnischen Prosa irgendwo am Ende der sechziger Jahre oder in der ersten Hälfte des folgenden Jahrzehnts suchen. Ohne überflüssige Einzelheiten für den Gebrauch dieser Skizze zusammenzutragen, würde ich in jener Zeit die Agonie der traditionellen, wenn auch "modernisierten" Prosa sehen und dort auch die Geburt einer neuen - nennen wir sie postmodernen - Prosa ansiedeln. Dabei ist mir natürlich bewußt, daß die hier angewandten Begriffe vorläufig noch gar nichts erklären. Ich bitte den Leser um etwas Geduld.
Es gibt keine andere Möglichkeit, ich sehe mich gezwungen, wirklich in nur wenigen Sätzen an Thesen zu erinnern, die heute schon zum Allgemeingut gehören, mit denen wir bereits mindestens seit einem Vierteljahrhundert leben. Sie betreffen den "Tod des Romans".5 Wir haben es also mit einer ganzen Serie (die Reihenfolge ist nicht wichtig) von "Todesfällen" zu tun: des Subjekts und der Autorität, der Ausdruckskraft und jeglicher Macht, etwas über die Welt und uns selber auszusagen. Festgesetzt hat sich auch ein neues Bewußtsein, wonach die Reform der traditionellen belletristischen Prosa nur in einem eingeschränkten Umfang möglich ist. In einem solchen Kontext wäre die Modernisierung nur eine einfache Anreicherung des bereits Existierenden um frische Empfindsamkeit und aufgefrischte Phantasie. Schließlich war es ein Gebot der Redlichkeit, die denkwürdige Kapitulation zu verkünden, die darin bestand, das Unmögliche einzugestehen. Denn es ist vergeblich, nach Formen der erzählerischen Aussage zu suchen, die in der Lage wären, sich der modernen Art, die Welt zu empfinden, anzunähern. Wenn trotzdem jemand bei der Erzählung bleiben möchte, so wird er, gestützt auf die süße Lüge (haben wir eine Krise? Unfug!), den Romanstoff auf dem epischen Schutthaufen verfluchen. Es geht auch so.
Ich behaupte also, daß der künstlerische Wandel in der polnischen Prosa in die Zeit zwischen dem Ende der sechziger und dem Beginn der siebziger Jahre fällt (wobei ich eher für den zweiten Abschnitt plädiere), und daß er gleichbedeutend mit dem Ende der Möglichkeit ist, eine Erneuerung traditioneller Ausdrucksformen durchzuführen. Aus den Texten, die diesen Umbruch mitschaffen, kann man einzelne Bestandteile entnehmen, die verkünden: Dies ist das Ende des Modernisierens.
Es wird Zeit, einige Beispiele zu nennen. In den Jahren, um die es hier geht, entstand Jerzy Andrzejewskis Roman Miazga (Der Brei) - er war 1970 beendet worden. Und man hielt ihn für die erste ernsthafte Verwirklichung "eines nicht möglichen Romans"6 und zugleich für das Werk, das den Umbruch jener Zeit bestätigt. Ähnlich schätze ich die Bedeutung des Pamiętnik z powstania warszawskiego (Tagebuch aus dem Warschauer Aufstand) von Miron Białoszewski ein. Auch dieses Buch wurde gegen Ende der sechziger Jahre geschrieben und zu Beginn der folgenden Dekade veröffentlicht. Ich möchte auch dieses Werk, diese Form der Erzählung, eine "nicht mögliche Geschichte" nennen, der die Unmöglichkeit zugrunde liegt, überzeugend auszudrücken, daß epische Formen den Erfahrungen (hier: des Krieges) nicht gerecht werden können. Ein dritter Text, der hier auch hingehört, stammt ebenfalls aus der Zeit des Übergangs von den sechziger zu den siebziger Jahren. Es ist das Werk Przygotowanie do wieczoru autorskiego (Vorbereitung auf einen Autorenabend) von Tadeusz Różewicz, das 1971 herauskam. Auch dies ist ein eigentümliches Beispiel für ein "nicht geschriebenes" Werk und zugleich ein Muster, das in den Jahren darauf viele Epigonen fand. Schließlich will ich noch ein viertes Buch erwähnen. Ich meine, in diese Reihe gehört unbedingt auch die Próżnia doskonała (Ein vollkommen luftleerer Raum) von Stanisław Lem, erschienen 1971. Die Schlußfolgerung aus diesem Text wäre nämlich, daß eine Sammlung von Rezensionen über nicht geschriebene Bücher den Beweis für die kreative Unmöglichkeit, insbesondere in der epischen Prosa, darstellt.7
Zu Beginn der siebziger Jahre starten zusätzlich die jungen Prosaiker (Józef Łoziński debütiert 1972), die der Kritiker, Henryk Bereza, wenige Jahre später in die von ihm selbst verkündete "künstlerische Revolution in der Prosa" mit aufnimmt. Doch ich muß zugleich einwenden, daß diese Revolution nach meinen Vorstellungen nur ein geringes Derivativ eines bedeutenden Umbruchs darstellt, und zwar des Umbruchs, über den ich hier nachdenke. Ansonsten setzte die Explosion der "revolutionären" Texte8 nach 1975 ein.
Die Existenz und die Konsequenzen der ästhetischen Wende in der polnischen Prosa der Gegenwart - nehmen wir einmal an, daß es so etwas wirklich gegeben hat - sind wohl niemals erfolgreich bis zum lesenden Publikum durchgedrungen. Von Zeit zu Zeit signalisieren einzelne Kritiker insbesondere in den neunziger Jahren die Existenz dieses Problems. Es fehlt aber das gemeinschaftlich ausgesprochene: "Es hat sich etwas verändert!" Warum kam es zu dieser Blockade? Hier drei meiner Hypothesen zu diesem Thema:
Erstens muß man die Nebenwirkungen der politischen Zerrissenheit berücksichtigen, die mindestens seit 1976 andauerte und sich dann 1981 schmerzlich vervielfachte. Das verkündete Primat der Ethik über die Ästhetik mußte im Endeffekt einfach Gleichgültigkeit gegenüber der neuen Prosa hervorrufen. Am anschaulichsten läßt sich das am Beispiel des abenteuerlichen Schicksals der Miazga darstellen. Der Roman von Andrzejewski, einem Autor, den übrigens immer ein gewisser Vorreiter-Ehrgeiz oder sogar Neuerungslust begleitete, wurde fast ausschließlich politisch gelesen und interpretiert. Das gleiche Abenteuer wurde einem anderen künstlerisch bedeutenden Buch zuteil, ich denke an Andrzejewskis Apelacja (Appellation). In beiden Fällen sind die Umstände charakteristisch, unter denen diese Prosa auftrat. Beide Romane wurden Ende der siebziger Jahre im Untergrund verlegt (abgesehen von der Apelacja-Ausgabe in der Emigration). Beide waren geradezu verurteilt, als Demaskierung des bösen "Komuch", des Kommunisten, gelesen zu werden. Die offiziellen Premieren in den fiebrigen Jahren 1981 und 1983 waren wirklich ein großes Unglück. Ein großes Unglück der Polen...
Ein zweites Unglück führte zu einer Verzögerung der literarischen Entwicklung. Es bestand in dem Unwillen, mit dem die meinungsbildenden Kreise aus dem Umfeld der Literatur auf die Prosavorschläge der jüngeren Schriftsteller reagierten, die sich dem Experiment zuwandten und Konsequenzen aus dem künstlerischen Umbruch zogen, also der Anerkennung des Unmöglichen.
Blutrünstig und tödlich funktionierte mehrere Jahre hindurch der Vorwurf des sozialistischen Parnassismus. Erfolgreich lancierte man die stereotype Aussage, ein für die Kulturpolitik zuständiger "Komuch" sei daran interessiert, avantgardistische Prosa zu unterstützen, in der es möglichst wenig epische Widerspiegelungen der Realität geben sollte, und je mehr formalistische Unverständlichkeit - um so besser. Diese politisch gekennzeichnete Diskriminierung wirkte wie eine Walze, die alles plattdrückte. Zwar hatte man auf diese Weise einige Graphomanen ausgeschaltet, doch auch zugleich den Diskurs zu miserablen Schmähungen verkommen lassen. Also wieder ein Unglück.
Drittens schließlich, und dies ist eng mit der zweiten Frage verbunden, wurde (und wird!) jede ernsthafte Diskussion über den künstlerischen Umbruch in der Prosa der polnischen Gegenwart von den "Großen Schiedsrichtern" blockiert. Eine besonders schädliche Rolle würde ich hier selbstverständlich Czesław Miłosz zuschreiben. Jedes ablehnende Urteil des Nobelpreisträgers in den achtziger Jahren wirkte wie eine Klinge. Zu recht hat Teresa Walas Miłosz als einen großen Archaismus bezeichnet, als den Großmeister der Verzögerung.9 Das Urteil dieser "Großen Schiedsrichter" wiederholte augenblicklich die Herde der Kleingeister. So haben wir es also hier mit dem Unglück des unselbständigen Denkens über die polnische Prosa zu tun. Auch wieder ein großes Unglück.
Es bleibt mir also nur zu wiederholen: Wenn es irgendwo eine wichtige Zäsur in der aktuellen polnischen Prosa gab, so fand sie sicher nicht im Jahre 1989 statt. Dagegen möchte ich den hier kaum angedeuteten ästhetischen Umbruch zu Beginn der siebziger Jahre - nach meiner Hypothese den einzigen bedeutenden - als Bezugspunkt für die weiteren Betrachtungen sehen. Ich möchte nämlich darüber nachdenken, wie die Kondition der neuesten polnischen Prosa gegenüber der postmodernen Herausforderung aussieht; also darüber, wie man mit dem Unmöglichen zurecht kommt.
Umbruch? Na und?
Der aufdringliche Versuch, die Prosaschriftsteller von der Notwendigkeit der realistischen Darstellung der Welt zu überzeugen, unserer Zeit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, war immer schon mindestens so stark wie die Hiebe, die man an die Schriftsteller en bloc verteilte, weil sie dieser verzweifelten Aufforderung nicht nachkamen. Von Kazimierz Wyka über Zagajewski bis Kornhauser immer das Gleiche: Zeigt die Wahrheit! Die inneren Gegensätze und die Nichtigkeit dieser Anweisungen hat Jerzy Jarzębski ausführlich beschrieben (in der Skizze Między "realizmem" a "prawdą" [Zwischen Realismus und Wahrheit] und bis zu den Erzählungen aus der Zeit von 1979/80 verfolgt. Das folgende Jahrzehnt hat dem eine interessante Pointe hinzugefügt, und zwar bemerkte man nach 1980 eine große Offensive des "Realismus" in der polnischen Prosa, insbesondere der Strömung, die man die "dargestellte Unwirklichkeit" nennen könnte. Wenn ich von "Realismus" spreche, denke ich weniger an eine bestimmte Technik des Schreibens, sondern eher an das in diesem Werk enthaltene starke Bedürfnis nach Entlarvung und Denunziation der Unwirklichkeit (des kommunistischen Staates). Natürlich sah in den Jahren vor der Aufhebung der Zensur alles anders aus, was durch das Sieb des entsprechenden Amtes gegangen war als das, was außerhalb der Kontrolle blieb.
Unter den legal herausgegebenen Büchern ("erster Umlauf") waren nur solche Prosawerke möglich, die mit einem gewissen Filter ausgestattet waren. Dieser milderte den Effekt der Denunziation. Drei grundlegende Lösungen würde ich hier unterscheiden. In erster Linie handelt es sich um eine gewisse Einengung des Themenkreises und um eine Art Zähmung der Aussage durch Peripheres, was jedoch die Aufnahme des Textes durch den Leser nicht veränderte, denn dieser blieb auf Verallgemeinerungen oder das Dechiffrieren der Allegorien eingestellt. So etwa war es im Fall der Geschichte Ucieczka do nieba (1980, Die Flucht in den Himmel) von Jan Komolka, wo das Leben in einer Erziehungsanstalt als Parabel der Erfahrungen mit dem Totalitarismus verstanden wurde. Nicht viel anders war es im Falle des berühmten Romans von Sławomir Łubiński Ballada o Januszku (1979, Ballade über Januszek), wo als Maß der Anklage der kommunistischen Nichtrealität das Unrecht diente, das "dem einfachen Mann" zugefügt wurde. Nach 1981 war die Attraktivität der Untergrundliteratur ("zweiter Umlauf") so groß, daß die eben beschriebene Strategie verworfen wurde. Die Nichtrealität konnte nun ganz direkt und ohne Scham dargestellt werden, was die Prosa der Quasi-Dokumentation und der Reporteroptik nahebrachte (Raport o stanie wojennym [Karpfen für die Miliz] von Marek Nowakowski) und andere. Das Empfinden der Nicht-Realität war manchmal so stark, daß - wie man es sich unschwer vorstellen kann - die einzige Möglichkeit die "Wahrheit" zu bezeugen, die groteske Beschreibung der Welt war (Mała apokalipsa [Kleine Apokalypse] und Kompleks polski [Der polnische Komplex] von Tadeusz Konwicki, Moc truchleje [Die Machthaber sind entsetzt] von Janusz Głowacki und Cudowna melina [Wunderbare Pinte] von Kazimierz Orłoś.
Zweitens, wenn es darum ging, die kommunistische Welt darzustellen, benutzte man einen Filter (im legalen, sog. Ersten Umlauf), den man als einen sprachlich-stilistischen Schleier bezeichnen könnte. Ein gutes Beispiel dafür ist das literarische Triptychon von Tadeusz Siejak aus den Jahren 1981-1987. Es ist richtig, daß in diesen Romanen die Pathologie des realen Sozialismus aus der Perspektive einer Fabrik (Oficer und Pustynia [Der Offizier, Die Wüste]) und des Labyrinths der Lokalmacht (Próba [Die Probe]) dargestellt wird, doch ist es eher unmöglich, in die Strategie des Denunzierens gewissermaßen avantgardistischen Ehrgeiz einzubringen. Das Vermengen unterschiedlicher Sprachstile, die Aufzeichnung des Bewußtseins, die aus dem Anwenden unterschiedlicher Sprachqualitäten entsteht (so ungefähr wie in Panna Lilianka [Fräulein Liliane] von Ryszard Schubert) und auch noch andere stilistische Kunststücke bewirken, daß Siejaks Angebot als demaskierender Bericht nicht erfolgreich war.
Die dritte und letzte Art der hier unterschiedenen Möglichkeiten, den realistischen Effekt in der Prosa der letzten Jahre zu schwächen, würde darin bestehen, bewußt das tendenziöse Element einzusetzen. Hierher gehören Bücher, die man manchmal als "heiße Prosa" bezeichnet, deren Autoren - was Wunder - sich ihres publizistischen Horizontes nicht schämen, mehr noch, die das Gefühl haben, eine wichtige Mission zu erfüllen. Die Schwächung des realistischen Effekts betrachte ich in diesem Fall als Paradox, weil selbst ein naiver Leser begreift, daß der einfache, um nicht zu sagen, primitive Schematismus wenig zu tun hat mit einer ausführlichen Beschreibung der Realität (der Unwirklichkeit). Sollte man also das Pamphlet als Beispiel heranziehen? Wenn es um Beispiele geht, so würde ich von den damals im offiziellen Umlauf befindlichen Büchern auf die schriftstellerischen Ergüsse von Roman Bratny verweisen, dem man Erfolge bei den Lesern der achtziger Jahre schwerlich absprechen kann. Hier würde sich auch die Strömung in der Romanliteratur wiederfinden, die gewissermaßen den Grundsatz der Partei verwirklichte: "Sozialismus ja, aber keine Abweichungen". Um das Jahr 1984 gab es nämlich eine wachsende Zahl von Neuerscheinungen, die das gesellschaftliche und politische Klima am Ende der siebziger Jahre als totalen Verfall, als Spirale von Korruption und Konformismus darstellten (in diesem Sinne sind die Bücher von Siejak und sehr wohl auch von Bratny zu verstehen). Unvermeidlich war, daß es viel literarischen Schund gab, deshalb möchte ich am Rande noch einen Roman erwähnen, der seinerzeit keine gute Aufnahme fand, weil man ihn - meiner Meinung nach zu unrecht - pamphletartiger Ambitionen bezichtigte. Ich meine den wohl besten politischen Roman des "ersten" also offiziellen Umlaufs jener Jahre und zwar die Sceny myśliwskie z Dolnego Śląska (1985, Jagdszenen aus Niederschlesien) von Łoziński. Den posthumen Sieg dieses Textes sehe ich so, daß hier zum ersten Mal die Vielschichtigkeit des Phänomens "Solidarność" mit der ganzen Plumpheit unterschiedlicher Mythologien dargestellt wurde, die diese Erscheinung hervorgebracht haben. Im Vergleich zu dem revisionistischen Diskurs, der in Polen spätestens seit Solidarność i samotność (Solidarität und Einsamkeit) von Adam Zagajewski eingeführt wird, sind die Beobachtungen von Łoziński als eine Art Vorwegnahme dieser Frage zu betrachten.
Geht es um die tendenziöse Einstellung der Prosa des "zweiten Umlaufs", so kann man hier mehrere Thesen entwickeln. Wie man etwa aus der Perspektive des Jahres 1992 sieht, wird aus der Prosa, die mit journalistischen Mitteln operiert wie etwa Kadencja (Amtsdauer) von Jan Józef Szczepański, Miesiące (Monate) von Kazimierz Brandys und Hańba domowa (Die Bürgerschande) von Jacek Trznadel kaum etwas übrigbleiben,10 denn sowohl das Tendenziöse an diesen Büchern als auch die Abhängigkeit von dem dargestellten politischen Kontext ist hier besonders groß. Die zweite These würde lauten, daß die Prosa der politischen Strömungen, insbesondere kleine Arbeiten in der Konvention des sozialistischen Realismus a rebours geschrieben, im künstlerischen Bereich als sehr schädlich betrachtet werden können. Das Element der Politik bewirkt nämlich, daß der ästhetische Umbruch, von dem ich oben geschrieben habe, unmöglich wird. Die Diktion der Prosa kann sich nicht von der Ausdruckskraft des 19. oder post-19. Jahrhunderts befreien. Sie dauert an und hält sich gut, die "epische Kontrabande", wie es Teresa Walas formuliert. Darunter sollte man folgende Situationen verstehen: "Alles, was auf dem Gebiet der literarischen Fiktion, auch der Kunst im weiteren Sinne in Frage gestellt wurde, also das Subjekt, der Held, die erzählerische Kunst, die Handlung, der dargestellte Gegenstand, kehrt nicht nur hintenherum wieder zurück, denn ein solcher ,Winkelhandel ist die Massenkultur, dies alles findet sich auch auf höchstem Niveau wieder als möglich und zulässig, nur eben in der Form eines Dokumentes, einer nicht oder nur wenig fiktiven Prosa." 11
Sehr gut entwickelte sich in den letzten Jahren die mythographische Strömung, in der ich ebenfalls einen ernsthaften Konkurrenten im Kampf um die Herzen und Hirne der Leser neuester polnischer Prosa sehe. In diesem thematischen und schöpferischen Umfeld entstanden viele Bücher, darunter eine größere Zahl von zweifellos bedeutenden Titeln. Besonders in den achtziger Jahren erfreute sich die mythographische Prosa großer Erfolge bei den Lesern und einem Teil der Kritik. In jenen Jahren erschienen neue Bücher von Konwicki, Jarosław Marek Rymkiewicz, Julian Stryjkowski, Andrzej Kuśniewicz. Die Versuche jüngerer Autoren, die ebenfalls zur Mythographie neigen, (Paweł Huelle, Piotr Szewc, Waldemar Żelazny) werden sehr freundlich aufgenommen, oder mehr noch, man möchte sie als das Beste einstufen, was bei den Jungen zu finden ist. Im Verhältnis zu der früheren Prosa dieser Art (ich möchte nur Tadeusz Nowak nennen) gab es eine gewisse Verschiebung, so würde ich es sehen: Folklore, Märchen, Inspirationen aus den Werken von Jung sind zugunsten von Exkursionen in die mythologisierte Geschichte zurückgetreten. Zu einem großen Thema wurde die Betrachtung der eigenen Wurzeln, oder manchmal auch des eigenen Bauches (die Großmutter aus Konwickis Bohiń [Bohiń]). Ein anderes großes Thema der mythographisch gefärbten Erzählkunst war der literarische Versuch, den bis dahin "weißen Flecken" einen neuen Sinn überzustülpen, der Versuch, eine neue mythologische Ordnung herzustellen. Ein besonders günstiges Feld für diese Art des schöpferischen Tuns waren die Probleme der polnisch-jüdischen (eventuell auch noch der -deutschen) Verwicklungen. Ich erinnere daran, um mir die folgende Bemerkung zu erlauben: Es gibt so viele Felder der Mythographie, die noch nicht bearbeitet wurden, so viele, die kaum oder noch gar nicht berührt oder angetastet wurden. Ein Ende dieser Prosa ist noch nicht in Sicht. Soviel dazu.
So geht es also der Mythographie recht gut, daher auch die Vielzahl der Titel. Eine nähere Betrachtung, und sei es nur einiger davon, würde den Rahmen dieser Überlegungen sprengen. Trotzdem möchte ich auf zwei Elemente aufmerksam machen, die mit dieser Art des Schaffens einhergehen. Beide betreffen die jüngeren Prosaschriftsteller. Erstens möchte ich auf das Bündnis der Mythographen mit den "Ethikern" hinweisen. Letztere habe ich bereits erwähnt: Es handelt sich um jenes neue Establishment im Umfeld der Literatur, vor allem um die Vertreter der 68er-Generation und diejenigen, die ihnen die moralischen Vollmachten gaben, also die Autoritäten oder besser, die Archaismen.12 Die Folge dieses Bündnisses ist (und das als zweites) der ungeheure Erfolg von Huelle - ich will hinzufügen, der Erfolg bei einem Teil der Kritiker, mit Błoński an der Spitze, dem wählerischsten unter den wählerischen, wenn es um die moderne, einheimische Prosa geht. Der 1987 herausgegebene Weiser Dawidek wurde sehr schnell um zahlreiche Übersetzungen bereichert und mit einer umfangreichen Reklame für das Ausland versehen. Schon gegen Ende der Dekade wurde er als das wichtigste Buch der achtziger Jahre dargestellt, natürlich unter den Werken, die von jungen Schriftstellern stammten.
Um zu dem wichtigsten Gedankengang dieser Überlegungen zurückzukehren, muß man feststellen, daß die gute Kondition der mythographischen Prosa sich vor allem auf den Sieg der Handlung stützt. Das Erzählen ist möglich, man kann auch beim Leser neues Interesse wecken und die angeknacksten Roman-Bündnisse können erneuert werden - kann man das so glauben? Man kann.13
Und ebenfalls als unerwartete Stärke kann man die Verflechtung zwischen Autor - Erzähler - Protagonist in Beichten der Art der "Lügen-Tagebücher" Konwickis (und einer Reihe seiner Epigonen) ansehen. Schließlich geht es hier um nichts anderes als um die Überwindung des Unmöglichen!
Die Frage lautet: Werden der Triumph des "Realismus" und der Mythographie, die Niederlage der Prosa nach dem Umbruch (oder der postmodernen Prosa), die die letzten mehr als zehn Jahre vorherrschten, einen dauerhaften Charakter haben und sich nicht so bald (vielleicht überhaupt nicht) ändern? Oder werden sich die Verhältnisse umkehren, sagen wir im Verlauf der nächsten Jahre? Es fällt schwer, hier etwas zu prophezeien... Ohne Risiko aber kann man voraussehen, daß es eine Konkurrenz geben wird, doch die entscheidende Stimme, das ist wohl selbstverständlich, wird den Kritikern gehören, die sich der Mühe des Begleitens unterziehen. Wenigstens das.
Meine Ausführungen wären unvollständig, wenn ich nicht wenigstens zum Schluß an einige Bücher erinnern würde, die das Pech hatten, in einer ungünstigen Zeit zu erscheinen, als vor allem das politische Chaos die Köpfe erhitzte, als die Erwartungen der Leser den aktuellen Konflikten untergeordnet waren und der Autor, der das künstlerische Experiment anstrebte, häßlicher Dinge verdächtigt wurde. Es werden vor allem Beispiel aus der Prosa sein, in denen ich weniger eine musterhafte Verwirklichung einer postmodernen Form sehe, als vielmehr eine Lektüre, die man ganz einfach verschwiegen hat, verschmäht, isoliert. Ich meine hier z.B. die Prosa von Anatol Ulman, deren Vorzüge nicht erkannt wurden, insbesondere das ungewöhnliche Buch Cigi de Monthazon (1979) und Obsesyjne opowiadania bez motywacji (1981, Besessene Erzählungen ohne Motivation). Nur Krzysztof Rutkowski zeigte seinerzeit beachtliche Intuition, als er den Essay Prolegomena do ulmanologii (Prolegomene der Ulmanologie) schrieb.14 Die Zeiten waren aber so, was ich schon mehrfach in dieser Skizze erwähnt habe, daß die Beschäftigung mit der Atrophie des Inhalts bei Ulman als so etwas wie eine Unverschämtheit galt. Eine zweite Revision sollte zumindest einem Teil der Literatur aus dem Bereich des - sagen wir mal - befreiten Phantasierens gelten. Vielleicht sollte man noch einmal die Bücher von Drzeżdżon unvoreingenommen durchsehen, zum Beispiel den (wie ich meine) sehr interessanten Roman Miasto automatów (Die Stadt der Automaten) von 1984. Ich würde auch an den Buch-Erstling von Bogdan Baran erinnern, an die interessante philosophische Quasi-Geschichte Anatem B., czyli historia naturalna Rzeczywistości (Anatem B., oder Die natürliche Geschichte der Realität) von 1983, die völlig unbemerkt an uns vorbeiging. Zur nochmaligen Lektüre lädt auch ein anderes Buch ein, das wir übersehen haben, Gry policyjne (Polizeispiele) 1987, von Tadeusz Koziura. Die Einladung zur Lektüre muß nicht unbedingt die künstlerische Prosa aus der Zeit vor mehreren Jahren betreffen, 1991 lag zum Beispiel das Buch Rien ne va plus von Andrzej Bart vor und im folgenden Jahr End & Fin Company von Krzysztof Bielecki oder Narracje (Erzählungen) von Tomasz Sęktas. Aber irgendwie sieht man auf Seiten der Kritik nicht den Willen diese Werke zu begleiten. Immer wieder herrschen Schweigen und die Sünde der Vernachlässigung. Fixiert auf den Umbruch des Jahres 1989, den es nicht gab, warten wir auf eine neue Prosa, die es gab und gibt. Es genügt, sie zu finden und auch, sie verstehen zu wollen.
Aus dem Polnischen von Anneliese Danka Spranger
Anmerkungen:
1. Verglichen mit den Gewohnheiten der letzten Jahre, gab es ziemlich viele solcher Bilanzen. Angefangen vom Geist journalistischer Provokation, z.B. Czarna dziura lat osiemdziesiątych (Das schwarze Loch der achtziger Jahre - eine Diskussion im "Tygodnik Powszechny" 1990, Nr. 13) über den Beitrag von Rafał Grupiński Przejście przez Morze Czerwone (Der Durchgang durch das Rote Meer - "Czas Kultury" 1991, Nr. 1/2), bis zur Sichtweise eines "sine ira et studio" (z.B. Proza lat osiemdziesiątych. Wstępne rozpoznanie [Die Prosa der achtziger Jahre. Einführende Überlegungen] von Mieczysław Orski. "Potop" 1991, Nr. 4). Mit einer präzisen Datierung des Umbruchs 1989 tat sich Marek Adamiec in der Skizze Literatura lat 80-tych. Wstępne rozpoznanie, oczywiste wątpliwości, wątpliwe oczywistości (Die Literatur der 80er Jahre. Einführende Überlegungen, selbstverständliche Zweifel, zweifelhafte Selbstverständlichkeiten) in "Kultura" 1991, Nr. 5. Dieser Kritiker legt die Zäsur auf den Tag genau fest: 17. April 1989 - den Tag der erneuten Registrierung von "Solidarność". Kein Kommentar...
2. J. Błoński: Badania nad literaturą 60-lecia (Untersuchungen über die Literatur der 60er Jahre) in der Sammlung: Rozwój wiedzy o literaturze polskiej po 1918 roku (Die Entwicklung der polnischen Literaturwissenschaft nach 1918). Warszawa 1986, S. 236.
3. J. Błoński: Antwort auf die Umfrage der Zeitschrift "NaGłos" (1990, Nr. 1, S. 60)
4. T. Komendant: Trywialne pytanie o prozę (Eine triviale Frage zur Prosa). "Tygodnik Literacki" 1990, Nr. 1.
5. Ganz sicher seit dem Traktat von M. Głowiński Powieść i autorytety (Der Roman und die Autoritäten) 1968.
6. T. Walas: O "Miazdze" Jerzego Andrzejewskiego, czyli o walce z szatanem (Über den "Brei" oder den Kampf mit dem Satan). "Pismo" 1983, Nr. 4.
7. Dies sind nur vier Beispiele, man könnte noch mehr heranziehen, z.B. das aus jener Umbruchzeit stammende Werk von Teodor Parnicki, den Roman Zabij Kleopatrę (1968, Töte Kleopatra), oder auch das für den Umbruch lehrreiche Buch Księga zdarzeń (1968, Das Buch der Ereignisse) von Bernard Sztajnert.
8. Wenn es keine "Revolution" gab, so fand zumindest "eine große Veränderung" statt, damit bin ich einverstanden. Und die Sorgen von Bereza (siehe die Diskussion in "Literatura" 1987, Nr. 5, bis 1988, Nr. 1) hatten ihren Grund in dem allzu engen Blickwinkel auf die Veränderungen in der jungen Prosa, der sich praktisch auf einige stilistisch-sprachliche Erscheinungen beschränkte.
9. T. Walas: Współczesna literatura polska - między empirią a konceptualizacją (Die polnische Literatur der Gegenwart - zwischen dem Empirischen und dem Konzeptualismus). "Teksty Drugie" 1990, Nr. 1, S. 88, 90.
10. Das bedeutet nicht, daß es alle Werke dieser Art betrifft. Zum Beispiel hat das Buch von Teresa Torańska, Oni (Die Anderen) ganz sicher einen unbestrittenen Stellenwert.
11. T. Walas: Współczesna... S. 89.
12. Cz. Miłosz: Szukanie ojczyzny (Auf der Suche nach dem Vaterland). Kraków 1992, S. 189.
13. Vielleicht hätte ich gleich zu Beginn anmerken sollen, daß ich hier nicht für die Vorherrschaft der Prosa des neuen Typus (zum Beispiel der "post-modernen") eintrete. Die Existenz der Werke nach dem Umbruch hat nur einen Sinn als kontinuierliche und ehrliche Rivalität des "Alten" mit dem "Neuen" um die Gunst des Lesers, und je mehr Unterschiede es gibt, um so besser.
14. K. Rutkowski: Ani było, ani jest. Szkice literackie (Es gab es nicht, und es gibt es nicht. Literarische Skizzen). Warszawa 1984.
Dariusz Nowacki - geb. 1965. Polonist, Literaturkritiker. Redakteur von "FA-art" und der Zeitschrift "Opcje", wo er die Literaturabteilung leitet. Ständiger Mitarbeiter anderer Literaturzeitschriften ("Twórczość", "Kresy", "Kwartalnik Artystyczny"). Sein Hauptgebiet ist die zeitgenössische polnische Prosa, besonders die der Debütanten; seine Doktorarbeit handelte über das Werk von Jerzy Andrzejewski. Lebt in Sosnowiec.
Dariusz Nowacki - geb. 1965. Polonist, Literaturkritiker. Redakteur von "FA-art" und der Zeitschrift "Opcje", wo er die Literaturabteilung leitet. Ständiger Mitarbeiter anderer Literaturzeitschriften ("Twórczość", "Kresy", "Kwartalnik Artystyczny"). Sein Hauptgebiet ist die zeitgnössische polnische Prosa, besonders die der Debütanten; seine Doktorarbeit handelte über das Werk von Jerzy Andrzejewski. Lebt in Sosnowiec.